Regionale Fußnoten – Projektdokumentation

PROJEKTPHASE 1

DER ANFANG WAR SCHON GEMACHT
Kinder und Jugendliche zu motivieren, sich mit ihrer Heimat und ihrem sozialen Umfeld (schau)spielerisch auseinander zu setzen, war Ziel unseres theaterpädagogischen Projektes. Realisiert werden konnte es in Zusammenarbeit mit der Christophorus Schule Sellin. Gemeinsam sollten die Teilnehmer*innen spannende historische und zeitgenössische Geschichten recherchieren und damit die Grundlage für eine Theaterinszenierung schaffen. In einer Reihe intensiver Workshops zu Beginn, konnte eine feste Gruppe etabliert werden und zusammen wachsen. Die Kinder und Jugendlichen entdeckten ihre (Theater)Spielfreude, lernten grundlegende Bühnenkompetenzen und Schauspieltechniken kennen.
In den wöchentlichen Kursen, erweiterten und festigten sie ihre Erfahrungen und Kenntnisse. So entwickelten sie in der ersten Projektphase im Schulhalbjahr 2019 Charaktere und Figuren, die die aktuelle Lebenssituation, die Wünsche, Hoffnungen und Ängste der Menschen verschiedener Generationen in ihrer Heimat repräsentieren.

PROJEKTPHASE 2

UND SO GING ES WEITER
Im Schulhalbjahr 2019/2020 ging es im Projekt „Regionale Fußnoten“ um das Inszenierungskonzept. Begleitet und unterstützt wurde die Gruppe von den Theaterpädagogen Carolin Gierer, Claudia Bieber und Kai P. Mücke. Nach Durchsicht der Rechercheergebnisse zu den regionalen Geschichten und der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Inhalten, entschieden sich die Schüler*innen für ein Theaterstück des Heimatdichters Fritz Worm (1863 – 1931). Das lag nahe, denn auch er setzte sich seinerzeit mit Geschichte und Gegenwart der Menschen in seinem sozialen Umfeld auseinander.

EXKURS FRITZ WORM
Fritz Worm stammte aus Barth im Landkreis Vorpommern-Rügen und war Lehrer von Beruf. Außerdem schrieb er Gedichte, Erzählungen, Heimatbücher und Theaterstücke in Plattdeutsch. Wegen seiner „rebellischen“ Haltung – er nahm kein Blatt vor den Mund und zeigte seinerzeit Missstände auf – wurde er im Herbst 1892 nach Alt Reddevitz auf die Rügener Halbinsel Mönchgut „strafversetzt“. Als er hätte zurückkehren können, entschied er sich jedoch auf der Halbinsel zu bleiben, weil er sich dort sehr wohlfühlte.
Intensiv setzte sich der Dichter für den Erhalt der plattdeutschen Sprache ein. 1898 begründete er das Göhrener Strandtheater mit und gab bis 1902 die Wochenschrift „De truge Husfründ“ mit mundartlichen Beiträgen heraus. Zu seinen Werken gehören u.a.: „För Old un Jung“ (1895), die „Mönchgauder Spaukgeschichten“ (1898) oder „Ut de Mönchgauder Spinnstuw“ (1898).

Die Auswahl der Projektteilnehmer*innen fiel auf ‚Truge Leiw‘ (Treue Liebe), ein Volkstheaterstück. Es erzählt von einem Vater, der seinen Sohn enterbt und verstößt, weil er eine junge Frau heiraten möchte, die keine Einheimische ist und keine Tracht trägt. Eine nicht „standesgemäße“ Liebe, die an Shakespeares „Romeo und Julia“ oder an Gottfried Kellers Adaption „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ erinnert. Bei Fritz Worm aber gibt es ein Happyend.
Den Schülern war es wichtig, die schon in der ersten Projektphase entwickelten regional-typischen Charaktere in die Inszenierung aufzunehmen und es insgesamt ein bisschen moderner zu gestalten.
Dazu musste es zunächst in die heutige und hochdeutsche Sprache übersetzt werden, denn die Kinder und Jugendlichen können Platt kaum lesen oder verstehen.
Während Carolin Gierer das Stück „Truge Leiw“ übersetzte und bearbeitete, beschäftigten sich die Schüler*innen mit dem Klassiker „Romeo und Julia“, um sich inhaltlich schon dem ausgewählten Stück von Fritz Worm zu nähern. In kleine Gruppen aufgeteilt entwickelten sie eigene Szenen unter der Überschrift: „Romeo und Julia – eine Liebe finden“ und arbeiteten mehrere Wochen an der Umsetzung. Die Ergebnisse wurden immer wieder der gesamten Gruppe präsentiert, die Szenen durch konstruktive Feedback-Runden erweitert und verbessert. Auf diese Weise entstand ein besonderes Bühnenformat: eine Szenen-Collage mit modernen und altmodischen Elementen, die parallel gespielt wurden, Sequenzen, die „vor- oder zurückgespult“ werden konnten und außerdem eine Adaption der TV-Flirt-Show „Der Bachelor“, in der „Romeo“ unter mehreren Kandidat*innen seine Julia auswählt. Vergleichbar mit Parallel-Schnitt, Vor- und Rückblende und den Elementen einer Talkshow lag hier der dramaturgische Ansatz in verschiedenen Fernsehformaten.

Weil es unmöglich sein sollte, die so entstandenen tollen Stücke in voller Länge inszenieren und aufführen zu können, entschieden sich die Schüler daraus nur den „Romeo Tag“ auszuarbeiten. Das bedeutete dramaturgisch, dass auf jedem „TV-Sender“ das „Romeo und Julia“-Phänomen in allen Farben und Facetten repräsentiert werden sollte. Die Inszenierung wurde als Collage konzipiert, die so wirkt, als würde der Zuschauer an langweiligen Stellen oder während der Werbung im Fernsehen, auf einen anderen Kanal zappen. Die schwierige Aufgabe für die einzelnen Gruppen bestand nun darin, zu entscheiden, welche Szenen ihres Stückes sie in die Collage einbringen wollen.
Nachdem die Übersetzung und Bearbeitung von Fritz Worms „Truge Leiw“ abgeschlossen war, wurden die Rollen besetzt und das Stück in den dramaturgischen Rahmen eingepasst. Um es „fernseh-authentischer“ zu gestalten, fand sich ein weiteres Projektteam, das sich Werbespots ausdachte und inszenierte, z.B. für regionale Produkte.
Das Theaterstück „Truge Leiw“ sollte in voller Länge inszeniert und aufgeführt werden, eingebettet in den „Romeo-Tag“. Es entstanden erste Entwürfe für das Bühnenbild.

PROJEKTPHASE 3

CORONA ÄNDERT ALLES
Anfang des Jahres 2020 stand das Inszenierungskonzept in groben Zügen fest und die Proben begannen. Der Schwerpunkt lag zunächst, auch weil es den Schüler*innen besonders viel Spaß machte, auf der TV-Flirt-Show. Sie hatte außerdem das größte Potential, die verschiedenen regional-typischen Charaktere zu inszenieren. Kurz nach den Winterferien, entschieden sich die Teilnehmer*innen doch gegen eine bunt gemischte Collage und für die vollständige Ausarbeitung und Inszenierung der Show und des Theaterstückes „Truge Leiw“ frei nach Fritz Worm.

Auf Grund der Corona Pandemie war es ab Mitte März 2020 nicht mehr möglich, analog an dem Projekt weiter zu arbeiten. Wir probten online, per Telefon oder Skype. Auf diese Weise, konnten die Rollen vertieft, weiter an Texten gewerkelt und über das Bühnenbild nachgedacht werden. Alle waren optimistisch, dass es trotz der schwierigen Situation zu einer Premiere kommen würde. Anfang Mai stand jedoch fest, dass es nicht möglich sein würde, das Projekt im Juni mit einer Premiere abzuschließen. Die geltenden Schutzmaßnahmen ließen konkrete Szenenarbeit und analoge Proben in der Gruppe nicht zu.

EINE ALTERNATIVE WAR SCHNELL GEFUNDEN
Alle wünschten sich, das Projekt trotz Corona erfolgreich abschließen zu können. Und so kam die Idee auf, aus der Bühnenshow eine Radioshow und aus dem Theaterstück ein Hörspiel zu machen.

Das bedeutete aber auch, dass die Gruppen beide Stücke kürzen und das ausgiebige szenische Material radiotauglich gestalten mussten. Alle drei Elemente: Das Theaterstück „Truge Leiw“, die Show und die Werbung sollten jedoch in ihrer Form erhalten bleiben. In vielen Einzel- und Gruppenproben strukturierten die Teilnehmer*innnen das Material um, änderten es und passten es an. So wurde im Theaterstück als Hörspiel ein Erzähler eingeführt. In der Show musste aus Zeitgründen auf einige Charaktere verzichtet werden.
Kurz vor den Sommerferien war es dann endlich so weit. Die Radio-Show mit dem Titel „Crème brûlée sucht Topping“ und das Hörspiel „Truge Leiw“ frei nach Fritz Worm waren fertig und die Kinder und Jugendlichen bereit für die Aufnahmen. Die Vorproduktion und einzelne Aufnahmen fanden im STiC-er Theater statt (dafür wurde im Rahmen des Projektes eine Tonkabine gekauft). Weitere Unterstützung bekamen die Gruppen von Pete Grützmann (petemusik – Tonstudio Rostock). Unter Einhaltung der zu der Zeit notwendigen Hygiene- und Schutzmaßnahmen fuhren wir in drei Gruppen an drei Tagen mit mehreren Autos ins Tonstudio nach Rostock.
Die Aufregung war groß, denn für fast alle war es das erste Mal, Tonaufnahmen in einem professionellen Studio zu machen. Pete Grützmann und das STiC-er Team konnten den Kindern und Jugendlichen die Angst nehmen und sie motivieren. Versprecher und Fehler gehören bei solchen Aufnahmen dazu. Und weil es nicht live ist, kann man alles ganz locker wiederholen und korrigieren.
Zu Beginn stand immer ein kleines Warm Up auf dem Programm. Den Körper spannen, den Rachen frei kriegen, den Kiefer lockern, die Stimmen „ölen“ – dann konnte es losgehen.
Voller Stolz beobachteten wir, wie souverän die Schüler*innen mit der Herausforderung umgingen, ihre Texte ausdrucksstark sprachen und sich gegenseitig motivierten und unterstützten. Die Stimmung war an allen drei Tagen großartig. So entstand Sequenz für Sequenz eine tolle Radio-Show und ein spannendes Hörspiel. Pete Grützmann sorgte für eine professionelle Endfertigung und mischte die Texte mit Geräuschen, Musikakzenten und Atmosphären.

„SPOT ON INSEL RÜGEN“ wird demnächst auf unserer Homepage, YouTube und SoundCloud veröffentlicht.

Wir danken allen Beteiligten, den Förderern und Unterstützern von ganzem Herzen für dieses tolle Projekt.

Unser besonderer Dank gilt den Schülern der Christophorus Schule Sellin für ihre Leistungen und ihr Engagement, Pete Grützmann für seine motivierende Art und die professionelle Umsetzung, Carolin Gierer für die Übersetzung und Bearbeitung von „Truge Leiw“ nach Fritz Worm, allen drei Theaterpädagogen für ihren unermüdlichen Einsatz, Steffen Klimt und dem gesamten STiC-er Team für die praktische und seelische Unterstützung.

Nutzungsrechte der Aufnahme von der überarbeiteten Fassung von „Truge Leiw“ frei nach Fritz Worm liegen bei Caroline Gierer und dem STiC-er Theater e.V..